tief verwurzelt in ihrem geburtsort in lviv schreibt anastasiya maria savran über den angriffskrieg in der ukraine: eine ukrainerin überlebt den einschlag einer rakete in mariupol, ein chatverlauf mit einem ukrainischen jugendlichen, der freiwillig in die armee eintreten möchte, ein brief einer ukrainischen studentin, die wochenlang in einem bunker in tschernihiw ausharrt und weitere biografische erzählungen verkörpern neu zu lebende und denkende begriffe wie heimat, flucht, familie und (über)leben.
Verlag Bibliothek der Provinz
MEINE WUNDE UKRAINE, 2024
SBN: 978-3-99126-192-621,5 x 15 cm, 160 Seiten, m. farb. Abb., Kt., Hardcover 15,00 €
Die Ärzte sind bei Andrij ratlos. Jede Untersuchung führt zur gleichen Feststellung: Die Blutwerte mittlerweile im Normbereich, die Organe unbeschädigt, die Wirbelsäule nicht verkrümmt. Eigentlich sollte Andrij seine Schultern straffen können. Eigentlich sollte er die Brust hervorstrecken können. Eigentlich sollte da kein Widerstand sein, wenn man sanft gegen seinen buckligen Rücken drückt, die Schultern nach hinten zieht. Eigentlich sollte da nicht diese unfassbare Anspannung der Muskel sein, die den Rücken krümmt, jeden Muskel verkrampft, und Andrijs Körper zur steifen Wand werden lässt.
Ich stehe neben der Tür und sehe zu, wie drei Ärzte an Andrijs dürren Körper herumfummeln. Mal hierhin drücken und massieren, mal dorthin. Andrij sitzt artig auf dem Sessel, der Krankenliege, er steht neben den Ärzten und zwischen ihnen. Wie bei einer leblosen, gebeugten Puppe schlenkern seine Arme und Beine hin und her. Seitlich an seinem Kopf sieht man seine grauen Strähnen, so dick wie ein Finger, die sich deutlich von seinem kastanienbraunen Haar abheben. Andrijs ergraute Strähnen. Mit neun Jahren.
Andrij ist mit einem überfüllten Bus aus dem Osten der Ukraine angereist. Sechsundachtzig Tage nach Kriegsbeginn. Eine Nacht hat er bei einer Freiwillligenfamilie verbracht, die aber schon bald aufgrund seines Zustandes bei uns um Hilfe angesucht hat. So kam er zu uns. Er stieg aus dem PKW, dünn und schwankend wie ein junger, zitternder Ast in einem Sturm. Genauso geknickt und gebeugt bewegte er sich auf das Kulturhaus zu, ohne auch nur einmal den Blick von seinen zerfetzten Schuhen zu heben. Seine Schultern erdrücken jene Last, die von einem Kind erzählen, das fünf Monate einen Krieg durchlebt hat. Ich weiß nicht, wo Andrij seine Eltern verloren hat. Ich weiß nicht einmal, von wo Andrij genau kommt. Seit dem Tag, an dem er hier angekommen ist, spricht Andrij nicht. Mutismus, mutmaßen die Ärzte, warten auf die Psychologin. Mutismus, diagnostiziert die Psychologin, und wartet darauf, dass ich herausfinde, durch welches durchlebte Trauma Andrij verstummt ist. Dass ich ihn zum Sprechen bringe, auf seiner Muttersprache in ihn eindringe und das hervorkehre, was ihn verstummen hat lassen.